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Jenseits des Gartenzauns

Annamária Tallián de Vizeky

Jenseits des Gartenzauns
Erzählung

altDie ungarische Studentin Annamária fährt in den 70er Jahren auf Grund geschäftlicher Beziehungen ihres Vaters regelmäßig von Ungarn in die DDR, mit anderen Worten: „Vom Regen in die Traufe“. Beide Länder stehen unter der Macht der kommunistischen Partei, dem ausführenden Organ der Sowjet-Diktatur. In beiden Ländern leben die meisten Menschen eingeschränkt in ihren Freiheiten und Lebensräumen als Uniformierte, die nicht als einzigartige, einmalige Individuen, sondern als gleichartige Einheiten ihre Existenz über sich ergehen lassen. Sowohl in Ungarn als auch in der DDR gab es jedoch Ausnahmen: Menschen, denen es gelang, nicht nach diesem Schema zu leben, weil sie die Andersartigkeit ihrer Lebens- und Denkweise erhalten und dadurch den starren Gesetzen des tristen Kommunismus die Stirn bieten können. Eine solche Insel der passiven Resistenz ist das Haus der Großeltern von Annamária, sowie der DDR-Familie Ennet in Hennigsdorf bei Ost-Berlin. Beide Inseln sind für sie Orte der Geborgenheit und dienen als sichere Refugien.
 
Während sie in Ungarn mit der Angst einflößenden Vorgehensweise des ungarischen Staatssicherheitsdienstes ÁVH konfrontiert wird, lernt sie in der DDR die gefürchtete Stasi kennen. Genau und einfühlsam, fast poetisch, wird die Innenansicht einer Familie während der Kádar-Zeit beschrieben.
 
Durch Heirat übersiedelt Annamária 1978 nach Westdeutschland. Nach langen Jahren des zeitlichen und örtlichen Abstands, werden ihr die gesellschaftlichen Ähnlichkeiten und Unterschiede Ungarns und der DDR bewusst. Davon erzählt sie ihrer großmütterlichen Freundin Editha Ennet in Hennigsdorf, die sie jetzt nicht mehr von Ungarn, sondern aus der Bundesrepublik besucht:
Im Juni 1972 wird Annamária direkt von der Abiturfeier von einer Mitarbeiterin der ungarischen ÁVH (Staatssicherheit) ins Innenministerium zitiert. Dort wird ihr unverblümt mitgeteilt, dass sie „zum Dienste ihres kommunistischen Vaterlandes“ als Agentin und Spionin ausgebildet werden soll. Da ein solches „Angebot“ nicht ohne weiteres abgelehnt werden darf, muss sich die Familie nach zermürbenden Monaten der Angst einen glaubhaften Grund einfallen lassen, um dieser „Ausbildung“ entkommen zu können, ohne Annamárias berufliche Zukunft zu gefährden. Ihre Chancen, einen Studienplatz zu bekommen, stehen ohnehin von vorn herein schlecht. In Ungarn bekommen etwa 90 Prozent der Studienplätze Abiturienten, die entweder einer Arbeiter- oder einer Bauernfamilie entstammen und deren Mitglieder zur MKP (Ungarische Kommunistische Partei) gehören. Annamárias Vater ist aber promovierter Jurist, ihre Mutter übt als Fremdsprachenkorrespondentin auch einen geistigen Beruf aus. Ihr Vater kommt aus einer alten Adelsfamilie, der nach der Machtübernahme der sowjetischen Besatzer seinen erlernten Beruf nicht ausüben darf, sondern sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen muss.
 
Mit Hilfe des Hausarztes Dr. Ezséki, der Annamária bescheinigt, an einer unheilbaren Tuberkulose zu leiden, gelingt es ihr, dem Angebot des Innenministeriums zu entkommen. Trotz der gelungenen Aktion bekommt sie keinen Studienplatz. Erst durch den Einsatz des Innenministers Dr. Oskuthy, der von Annamária einen Zeitungsartikel aus den 40er Jahren erhält in dem steht, dass ihr Großonkel, der Zahnarzt Dr. Polányi, 1944 von den Nazis hingerichtet wurde, weil er jüdische Frauen und ihre Kinder vor der Deportation ins Konzentrationslager rettete, erhält sie den Studienplatz.
Annamária beginnt das erste Semester mit bitterem Beigeschmack, nachdem sie erfährt, dass die Idee mit der Ausbildung zur Agentin und Spionin von der Mutter ihrer ersten Liebe Gyuri stammt; dies macht ihr außerdem klar, dass Gyuris Mutter im Innenministerium eine ähnliche „Arbeit“ verrichtet. Daran und am niederträchtigen und systematischen Intrigieren von Gyuris Mutter gegen Annamária scheitert die erste Liebe; Gyuris Familienangehörige sind in Auschwitz umgekommen und ihre Mutter will nur „ein jüdisches Mädchen“ für ihren Sohn akzeptieren.
 
Annamária fühlt sich an der Universität von den Kommilitonen in den Hintergrund gedrängt. Sie merkt allmählich, dass sie unter diesen Umständen trotz ihres enthusiastischen Einsatzes im Studium der Literatur und Sprachen nie „für voll genommen“ und verstanden würde. Innere Leere macht sich in ihr breit; das Ziel dieses Studiums sieht sie nicht mehr klar, alles kommt ihr immer konturloser und verschwommener vor.
 
Während einer ihrer düsteren Meditationen im berauschend schönen, von üppigen Blumen und prächtig gediehenen Früchten strotzenden Garten ihrer geliebten Großeltern, blickt sie trotz strengsten Verbotes zum ersten Mal bewusst über den Gartenzaun, der zwei Welten voneinander trennt. Jenseits des Gartenzauns befindet sich die von kapitalistischen Feinden geführte norwegische Botschaft, deren Existenz nach den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen dieser Zeit als Tabuthema galt. Jegliche Kontaktaufnahme mit der Botschaft würde die Existenz derer bedrohen, die sie trotzdem wagten.
Nach einigen zaghaften Begrüßungen über den Gartenzaun findet Annamária eines Tages ein kleines Papierröllchen in den Gartenzaun gesteckt: eine Einladung in die Botschaft! Außer ihrer Oma, erzählt sie davon niemand, als sie zwei Tage später dieser Einladung folgt und zum ersten Mal in ihrem Leben kapitalistisches Terrain betritt. Von da an erteilt sie dem Botschafter in der norwegischen Botschaft regelmäßig Russischunterricht, worum der sie gebeten hatte. Im Laufe der Besuche beginnt bei ihr eine innere Metamorphose: Sie vergleicht das bisher Erlebte mit den neuen Eindrücken, Lebens- und Umgangsformen, mit einer völlig anderen Denkweise der Mitarbeiter dieser Botschaft. Diese neue Welt erscheint ihr freier, unbeschwerter, als die alltägliche Atmosphäre im kommunistischen Ungarn. Durch eine Fügung, die sie damals noch für einen Zufall hält, beschleunigt sich ihr Erkenntnisprozess. Auf der in Budapest alljährlich stattfindenden Internationalen Messe, wo sie ihre plötzlich erkrankte Mutter vertritt, die dort für eine westdeutsche Firma übersetzen sollte, lernt sie ihren zukünftigen Ehemann kennen und lieben. Nach der Eheschließung darf sie nun offiziell Blicke über den Gartenzaun werfen. Wenig später landet sie auf dem verbotenen Territorium jenseits des Gartenzauns, indem sie ihrem Mann folgend nach Westdeutschland übersiedelt.
 
Sie verlässt das heiß und innig geliebte Haus ihrer Großeltern, sie verlässt die Veranda, auf der sich die Freundinnen ihrer Großeltern, sonntäglich zur Bridge-Party versammelten, eine Insel im Kommunismus, ein vertrauter Ort des Friedens, in dem die Familie an Weihnachten den Heiligen Abend feierte und nicht „Das Fest der Tanne“, wie es offiziell genannt wurde. Hier wurde sie stets mit „Grüß Gott“ empfangen, trotz Verbotes dieser Worte. Über der Eingangstür hing innen ein Kreuz. 3 Lenin, Marx und Engels waren weit entfernt. Sie verlässt ihr Refugium, in dem sie ihre Identität bewahren konnte.
Jetzt begann ein Leben diesseits des Gartenzauns.
 
Der in den Medien weit verbreitete, oft zu lesende Begriff vom „Gulaschkommunismus“, und die ebenso oft gehörte Alliteration „Puszta, Paprika und Piroska“ zeigten ihr Geburtsland in einem peinlichen, beschämend klischeehaften Licht, auf eine oberflächliche Art und Weise. Es stimmt, dass die Ungarn in den 60er, 70er Jahren unter weniger politischem Druck zu leiden hatten, als die Menschen in der DDR. Ihre Meinung war zwar nicht frei, aber etwas freier, und genügend Gulasch hatten sie auch auf ihren Tellern.
Die Autorin berichtet unprätentiös und einfühlsam von den Drücken und Bedrückungen ihres Heimatlandes, aber auch von den Freuden des Daseins im Kampf für die Erhaltung ideeller Werte, sowie vom inhaltsreichen Leben einer ins gesellschaftliche Abseits gestellten aristokratisch-intellektuellen Familie. Sie wurden wie Walnüsse behandelt: der nährvolle Inhalt wurde dringend benötigt, also brach man die Schalen um den Kern herum auf und bediente sich dessen. Die Schale als wertloser Abfall weggeworfen. Mit dieser Erzählung unternimmt sie den Versuch, die zerbrochenen Stücke der Schale wieder zusammenzufügen. In der Hoffnung, dass die Menschen darin lesen können.
(Wolfgang Welsch)
 
 
 


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