Weite Reise

Der „Traum vom Finden“ (6/2010, S. 18) ist noch nicht ausgeträumt. Protagonist P. ist jetzt Herzwangen, doch nicht nur der Name hat sich geändert. Alle Kämpfe scheinen gekämpft, Alter, Blindheit und Einsamkeit bedrücken den Mann namens Herzwangen. Er wollte immer etwas verändern - die Politik, die Gesellschaft, seine Frau - jetzt hat er Mühe, den Status quo zu halten.
Die große Liebe seines Lebens hat ihn endgültig verlassen. In der gemeinsamen Wohnung an der Ostsee um vertane Chancen trauernd, wird ihm auch diese Zuflucht genommen, weil der Westen mit seinen speziellen Eigentumsgesetzen inzwischen im Osten die Verhältnisse bestimmt. Und nun setzt der unverbesserliche Idealist neue Hoffnung in seine Heimatstadt Schwerin, die ihn doch so oft schon scheitern ließ. Er hat begonnen zu schreiben, die neue Wohnung könnte sein erträumtes Refugium sein, wenn nicht in der Etage über ihm eine lautstarke, Sozialhilfe empfangende, Neonazi-WG Quartier bezogen hätte. Herzwangen sitzt wieder einmal in der Falle. Der Lärm wird zur physischen Qual. Kündigt sich ein Paradigmenwechsel an? In der vermeintlich linken DDR politisch inhaftiert, war er zum Antikommunisten geworden. Jetzt kommt der Angriff von rechts. Doch er ist lebenserfahren genug, um Selbst-Etikettierungen zu durchschauen. Die Neonazis erweisen sich vor allem als heruntergekommene Alkoholiker, die staatliche Fürsorge ausnutzen, was Herzwangens Lage allerdings nicht besser macht.
In einer Augenklinik hatte er vor Jahren einen Mann kennengelernt, der ihm von einem geheimnisvollen Ort im Südwesten Frankreichs erzählte. Dort würden Menschen zusammenleben, die der Welt nicht mehr standhalten könnten, und Frieden finden. Kein Paradies, aber vielleicht ein Shangri-la. Herzwangen bricht alle Zelte ab und macht sich auf den Weg. Er sucht einen Platz, um heil zu werden. Auf der Reise besucht er noch einmal Orte und Menschen, die Teil seiner Vergangenheit sind. Er versucht, lose Fäden, die er nie Gelegenheit hatte zu verknüpfen, wieder aufzunehmen. Mit der Fahrt nach Süden bewegt er sich auch durch vergangenes Leben.
Am Ende der Reise und am Ende des Buches zeigt sich Herzwangen gereift, nahezu weise, der Wirklichkeit fast schon entrückt. Und dennoch wird man den Eindruck nicht los, daß etwas fehlt, daß noch etwas kommt. Er hat sich noch nicht vollendet.
Auch wenn Herzwangens Weg biografische Parallelen zum Autor Jürgen Schmidt-Pohl aufweist und ein ähnliches Lebensgefühl unübersehbar ist, scheint die Distanz zwischen beiden im Vergleich zu „Traum vom Finden“ doch gewachsen. Der Protagonist hat sich von seinem Erschaffer emanzipiert. Das tut Hauptfigur und Erzählfluß gut. So wird auch glaubhaft, daß dieser Herzwangen trotz unzähliger Schläge, die er erhalten und manchmal selbst zu verantworten hat, noch nicht am Ende ist. Man traut ihm zu, bei der großen Suche nach dem Sinn des Lebens in sich selber fündig zu werden.

Ein Roman, der in keine Schublade paßt, aber auf jeden Nachttisch gehört.

                                              Friedrich Falkenhar